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Das Ich ist nur ein Stückchen Bewusstsein, das auf dem unermesslichen dunklen Meer schwimmt. Wir sind uns selbst ein Rätsel.
Aus dem Mentaten-Handbuch
In ihren Gemächern lag Jessica neben Herzog Leto auf dem großen Bett und versuchte, seine Alpträume zu vertreiben. Einige seiner Narben auf Brust und Beinen mussten weiterhin mit Neuhaut-Verbänden behandelt werden, um sie vollständig verheilen zu lassen. Körperlich war Leto fast wieder gesund, obwohl die Tragödie immer noch in seiner Seele eiterte, genauso wie die schreckliche Entscheidung, vor der er stand.
Sein Freund oder sein Sohn?
Jessica war überzeugt, dass es ihn noch mehr schmerzen würde, wenn er täglich einen Ghola von Victor sah, aber sie hatte noch nicht den Mut gefunden, es ihm zu sagen. Sie suchte noch nach den richtigen Worten und dem richtigen Moment.
»Duncan ist wütend auf mich«, sagte Leto und rückte ein Stück von ihr ab, um ihr in die klaren grünen Augen zu blicken. »Genauso wie Thufir und wahrscheinlich auch Gurney. Niemand ist mit meinen Entscheidungen einverstanden.«
»Es sind deine Berater«, sagte sie vorsichtig. Wenn sie mit dem Herzog allein war, wagte sie es gelegentlich, auf die förmliche Anrede zu verzichten. »Sie haben die Aufgabe, ihre Meinung zu äußern.«
»In diesem Fall musste ich sie dazu auffordern, ihre Meinung für sich zu behalten. Nur ich allein kann diese Entscheidung treffen, Jessica – aber was soll ich nur tun?« Das Gesicht des Herzogs verfinsterte sich, und seine Augen wurden glasig. »Ich habe keine anderen Möglichkeiten, und nur die Tleilaxu können mir helfen. Ich ... ich vermisse meinen Sohn so sehr.« Seine Augen baten sie um Verständnis und Unterstützung. »Wie soll ich entscheiden – wie kann ich Nein sagen? Die Tleilaxu werden mir Victor zurückgeben.«
»Um den Preis von Rhombur ... und vielleicht um den Preis deiner Seele«, sagte sie. »Wenn du deinen Freund für eine falsche Hoffnung opferst, wird es dein Untergang sein. Bitte tu es nicht, Leto.«
»Rhombur hätte beim Absturz sterben sollen.«
»Vielleicht. Doch das lag in Gottes Hand, nicht in deiner. Er lebt noch. Trotz allem hat er immer noch den Willen zum Weiterleben.«
Leto schüttelte den Kopf. »Rhombur wird sich niemals von diesen Verletzungen erholen. Niemals.«
»Mit Dr. Yuehs Cyborg-Technik hat er eine Chance.«
Er blickte sie finster an. »Was ist, wenn die technischen Ersatzteile nicht funktionieren? Wenn Rhombur sie gar nicht will? Vielleicht wäre er besser dran, wenn er tot wäre.«
»Wenn du ihn den Tleilaxu übergibst, werden sie ihm niemals einen einfachen Tod gönnen.« Sie hielt inne und schlug dann in sanfterem Tonfall vor: »Vielleicht solltest du ihn dir noch einmal ansehen. Schau deinen Freund an und hör auf das, was dein Herz dir sagt. Schau Tessia an, sieh ihr in die Augen. Dann rede mit Thufir und Duncan.«
»Ich muss ihnen meine Entscheidungen nicht erklären – oder sonstjemand. Ich bin Herzog Leto Atreides!«
»Ja, der bist du. Und außerdem bist du ein Mensch.« Jessica musste sich anstrengen, ihre Gefühle zu beherrschen. Sie strich über sein schwarzes Haar. »Leto, ich weiß, dass du nur aus Liebe handelst, aber manchmal kann die Liebe einen Menschen in die falsche Richtung treiben. Liebe kann uns blind für die Wahrheit machen. Du befindest dich auf dem falschen Weg, und in deinem Herzen weißt du es.«
Obwohl er sich von ihr abwandte, gab sie sich nicht geschlagen. »Du darfst die Toten niemals mehr lieben als die Lebenden.«
* * *
Thufir Hawat war so besorgt wie stets, als er den Herzog zum Hospital begleitete. Rhomburs Lebenserhaltungswanne schien mit Schläuchen und Drähten für Katheter und Messinstrumente gespickt. Das Summen der Maschinen und die Gerüche von Chemikalien erfüllten den Raum.
Hawat senkte die Stimme. »Das alles kann Sie nur in den Untergang führen, mein Herzog. Wenn Sie das Angebot der Tleilaxu annehmen, wäre es Verrat, eine unehrenhafte Tat.«
Leto verschränkte die Arme über der Brust. »Sie haben dem Haus Atreides seit drei Generationen gedient, Thufir Hawat, und Sie wagen es, meine Ehre infrage zu stellen?«
Der Mentat ließ nicht locker. »Die Mediziner arbeiten daran, eine Verbindung zu Rhomburs Gehirn herzustellen, um mit ihm kommunizieren zu können. Bald wird er wieder sprechen können. Dann wird er Ihnen mit eigenen Worten sagen ...«
»Ich muss diese Entscheidung treffen, Thufir.« Letos Augen wirkten dunkler und härter als sonst. »Wirst du tun, was ich sage, oder muss ich mir einen gehorsameren Mentaten besorgen?«
»Wie Sie befehlen, Mylord.« Hawat verbeugte sich. »Dennoch wäre es besser, wenn wir Rhombur jetzt sterben lassen, statt ihn den Tleilaxu auszuliefern.«
Es war vereinbart worden, dass Yuehs Cyborg-Team demnächst eintraf, um mit dem komplizierten Prozess zu beginnen, Rhombur Stück für Stück wieder aufzubauen, indem sein Körper mit passenden Interfaces bestückt wurde. In einer Kombination aus maschineller und medizinischer Rekonstruktion würde der Suk-Arzt technische und biologische Strukturen miteinander verknüpfen – Neues und Altes, Hartes und Weiches, um verlorene Fähigkeiten wiederherzustellen. Wenn Leto ihnen erlaubte weiterzumachen, würden Dr. Yueh und seine Mitarbeiter Gott spielen.
Gott spielen.
Das taten auch die Bene Tleilax. Sie benutzten andere Methoden, aber auch sie konnten Verlorenes rekonstruieren, Totes zum Leben erwecken. Dazu benötigten sie nur ein paar Zellen, die sorgfältig konserviert waren ...
Leto holte tief Luft und trat an die Lebenserhaltungswanne, um auf das nackte Entsetzen zu blicken, auf die verbrannten Überreste seines langjährigen Freundes. Er griff nach dem gekrümmten Glas, unter dem das unkenntliche menschliche Wesen lag. Seine Finger strichen über die glatte Oberfläche und zitterten in einer eigenartigen Mischung aus Angst und Faszination. Tränen liefen ihm über die Wangen.
Ein Cyborg. Würde Rhombur seinen Freund dafür hassen oder ihm danken? Zumindest wäre er weiterhin am Leben. In gewisser Weise.
Rhomburs Körper war so schwer verstümmelt, dass er kaum noch an einen Menschen erinnerte. Maßgeschneiderte Elemente stützten und versorgten die Masse aus Fleisch und Knochen, die dennoch roh und verletzlich wirkte. Eine Seite des Gesichts und Gehirns war eingeschlagen, sodass nur noch ein blutunterlaufenes Auge übrig war ... doch es war kein Blick darin. Die blonde Augenbraue gab den einzigen Hinweis, das es sich wirklich um Prinz Vernius handelte.
Du darfst die Toten niemals mehr lieben als die Lebenden.
Leto presste eine Hand auf die Hülle aus Klarplaz. Er sah Rhomburs Fingerstummel und eine geschmolzene Masse aus Metall und Fleisch, wo sich sein Ring mit dem Feuerjuwel befunden hatte.
»Ich lasse dich nicht im Stich«, versprach Leto flüsternd. »Du kannst dich darauf verlassen, dass ich das Richtige tun werde.«
* * *
In der Kaserne der Atreides-Hauswache saßen zwei Männer an einem schlichten Holztisch und tranken miteinander eine Flasche Pundi-Reiswein. Obwohl sie sich erst seit kurzem kannten, gingen Gurney Halleck und Duncan Idaho bereits wie lebenslange Freunde miteinander um. Sie hatten vieles gemeinsam, insbesondere einen tiefen Hass auf die Harkonnens ... und eine bedingungslose Liebe zu Herzog Leto.
»Ich mache mir große Sorgen um ihn. Diese Ghola-Geschichte ...« Duncan schüttelte den Kopf. »Ich kann Gholas nicht ausstehen.«
»Geht mir genauso, Junge.«
»Ein solches Geschöpf würde Leto ständig an die schlimmste Zeit seines Lebens erinnern und kaum an das Kind, das er so sehr geliebt hat.«
Gurney nahm nachdenklich einen tiefen Schluck Reiswein, dann holte er sein Baliset unter dem Tisch hervor und begann zu zupfen. »Und der Preis – er müsste Rhombur opfern! Aber Leto will einfach nicht auf mich hören.«
»Leto ist nicht mehr wie früher.«
Gurney hörte auf zu spielen. »Wer könnte bleiben, wie er ist ... nach all dem Schmerz?«
* * *
Der Tleilaxu-Meister Zaaf traf in Begleitung zweier Leibwachen und mit versteckten Waffen auf Caladan ein. Selbstbewusst marschierte er im Hauptsaal der Burg auf Thufir Hawat zu und blickte zum wesentlich größeren Mentaten auf.
»Ich komme, um die Leiche des Jungen zu holen, damit wir sie für den Axolotl-Tank vorbereiten können.« Zaaf kniff leicht die Augen zusammen und war völlig davon überzeugt, dass Leto sich seinen Bedingungen fügen würde. »Außerdem habe ich den Transport der Lebenserhaltungseinheit mit Rhombur Vernius in die medizinischen Experimentierlabors von Tleilax arrangiert.«
Hawat bemerkte den Ansatz eines Grinsens auf dem Gesicht von Zaaf und wusste, dass diese Teufel unvorstellbare Gräueltaten mit Rhomburs geschundenem Körper anstellen würden. Sie würden experimentieren, Klone aus den lebenden Zellen züchten, um dann vielleicht auch die Klone zu quälen. Irgendwann würde Leto die Folgen dieser schrecklichen Entscheidung zu tragen haben. Der Tod wäre ein besseres Schicksal für seinen Freund als diese Dinge.
Der Tleilaxu-Vertreter stach noch tiefer in die offene Wunde. »Mein Volk hat gute Verwendung für die Gene aus der Atreides- und der Vernius-Familie. Wir freuen uns schon auf ... viele Möglichkeiten.«
»Ich habe dem Herzog abgeraten.« Hawat wusste, dass er sich später dem Zorn Letos aussetzen musste, aber der alte Paulus hatte oft gesagt: »Jeder – auch der Herzog – muss stets das Wohlergehen des Hauses Atreides über seine eigenen Interessen stellen.«
Notfalls würde Hawat seine Dienste aufkündigen.
In diesem Moment betrat Leto den Raum. Er wirkte so selbstbewusst, wie der Mentat ihn schon seit vielen Wochen nicht mehr erlebt hatte. Gurney Halleck und Jessica folgten ihm. Er warf Hawat einen Blick voller Entschlossenheit zu und verbeugte sich dann höflich vor dem Tleilaxu-Botschafter.
»Herzog Atreides«, sagte Zaaf, »es ist durchaus möglich, dass diese geschäftliche Vereinbarung die Kluft zwischen Ihrem Haus und unserem Volk überbrückt.«
Leto blickte mit stolz erhobener Falkennase auf den kleinen Mann herab. »Bedauerlicherweise wird es nicht zu diesem Brückenbau kommen.«
Hawat machte sich auf alles gefasst, als sich der Herzog Zaaf näherte. Gurney Halleck schien ebenfalls bereit, einen Mord zu begehen, und blickte sich unsicher zu Hawat und Jessica um. Als die Tleilaxu-Leibwachen mit sichtlicher Anspannung reagierten, stellte sich Hawat darauf ein, das Problem mit einem schnellen, blutigen Kampf aus der Welt zu schaffen.
Der Tleilaxu-Vertreter runzelte die Stirn. »Wollen Sie etwa unsere Vereinbarung brechen?«
»Ich habe keine Vereinbarung getroffen, die ich brechen könnte. Ich bin zum Entschluss gelangt, dass Ihr Preis zu hoch ist – für Rhombur, für Victor und für meine Seele. Ihre Reise nach Caladan war leider umsonst.« Die Stimme des Herzog war kräftig und sicher. »Es wird keinen Ghola meines erstgeborenen Sohns geben, und Sie werden meinen Freund Prinz Vernius nicht bekommen.«
Verblüfft verfolgten Thufir, Gurney und Jessica die Szene.
Leto schien zu einer unerschütterlichen Entscheidung gelangt zu sein. »Ich verstehe, dass Sie immer wieder versuchen, sich an mir zu rächen, obwohl ich im Verwirkungsverfahren von aller Schuld freigesprochen wurde. Ich habe geschworen, dass ich Ihre Schiffe im Heighliner nicht angegriffen habe, und das Wort eines Atreides gilt mehr als alle Gesetze des Imperiums. Ihre Weigerung, mir zu glauben, beweist nur Ihre Dummheit.«
Der Tleilaxu schien kurz vor einem Wutanfall zu stehen, doch Leto fuhr mit scharfer, kalter Stimme fort, die Zaaf zum Schweigen brachte. »Inzwischen habe ich von den Hintergründen dieses Angriffs erfahren. Ich weiß, wer es getan hat und wie es bewerkstelligt wurde. Doch da ich keinen handfesten Beweise besitze, würde es nichts nützen, Sie darüber zu informieren. Außerdem scheinen die Bene Tleilax ohnehin nicht an der Wahrheit interessiert zu sein – sondern nur am Preis, den Sie mir möglicherweise entlocken können. Aber ich werde ihn nicht bezahlen.«
Auf einen Pfiff von Hawat stürmte die bereitstehende Hauswache der Atreides herein und setzte die Tleilaxu-Leibwachen fest, während Gurney und Hawat vortraten, um den wutschäumenden Meister Zaaf in die Mitte zu nehmen.
»Ich fürchte, wir benötigen die Dienste der Tleilaxu nicht. Weder heute noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt«, sagte Leto. Dann wandte er ihm einfach den Rücken zu. »Gehen Sie heim.«
Hawat war es ein Vergnügen, den entrüsteten Tleilaxu aus der Burg zu führen.